Der Flug zum Ort des Überfalls sollte zu den längsten 25 Minuten ihres bisherigen Lebens werden. Jedenfalls fühlte es sich so an. Kuhn am Steuer hatte natürlich ein wenig mehr zu tun als der Rest, doch eine große Ablenkung war das Lenken nicht. Derek konnte die Augen nicht von seinen Instrumenten und Bildschirmen lassen, ob sich die Lage irgendwie änderte. Es war Bewegung darin, doch man konnte nicht viel mehr erkennen als das, was Derek schon gemeldet hatte.

Eine Gruppe Handelsschiffe und 3 kleine Karperschiffe wahrscheinlich. Man konnte das nie zu 100% sagen. Scanner-Technologie oder nicht, es war dennoch irgendwie ein Blindflug.

Schließlich begann Kuhn, den Schub herauszunehmen. Für die geplante Intervention mussten sie von der Reisegeschwindigkeit runterkommen.

Das restliche Geschwader folgte wie angeordnet in der Interventions-Formation. Diese war ein wenig mit einem Keil vergleichbar und ließ maximale Angriffskraft bei minimaler Breite zu. Es war der Standard, um eine solche ungewisse Lage anzusteuern.

"Nimm den Schub nicht zu sehr heraus, Kadett am Steuer!" brach Kapitän Lonn die Stille.

"Wir müssen in Bewegung bleiben. Gefechtsstände, Feuer freigegeben! Schießt auf alles, was uns angreift!" befahl er.

"Lonn, wir haben nichts als Blindgänger an Bord! Wir sollten nicht so dicht heran. Wir müssen den Piraten einen Reichweitenvorteil suggerieren und in sicherer Entfernung warten!" wehrte sich Kommandant Hergat.

"Kommandant, ihr habt dem Geschwader befohlen, dem Flaggschiff zu folgen. Damit ist das MEINE Entscheidung. Die Piraten wissen genau, wenn wir nicht waghalsig hineinfliegen fürchten wir, zu verlieren. Wir demonstrieren Stärke, die Piraten denken es lohnt sich nicht und drehen ab." konterte der Kapitän.

"Schön, jedoch funktioniert das nur solange wir keinen Schuss abfeuern müssen! Ob wir uns derart auf unser Glück verlassen sollten?" wandte der Kommandant ein.

"Das Glück ist mit den Mutigen! Wir halten das Tempo und Feuern bei Bedarf! Vertraut mir!" bestand der Kapitän auf seiner Entscheidung.

Kuhn hatte eigentlich mit dem Tempo noch deutlich heruntergehen wollen, hielt sich aber an den Befehl.

Der Ort des Überfalls kam schließlich immer schneller in Sichtweite...

"3 Piratenschiffe ausgemacht, es handelt sich um kleine Abfangschiffe für das Karpern! 5 Handelsschiffe, 1 davon..." meldete Derek und stockte.

"Sprich es aus, Kadett! Was siehst du?!" bellte sein Kapitän ihn an.

Eines der Handelsschiffe war durchlöchert und in Stücke gerissen von den Enterhaken der Piraten. Man brauchte kein Studium an der Akademie um zu erkennen, dass jegliche Hoffnung für die Besatzung dieses Schiffes bereits verloren war. Fast hätte Derek das Wort 'zerfetzt' für dessen Zustand genutzt.

"... 1 davon zerstört." hörte sich Derek stattdessen sagen.

"Warum fliegen die anderen nicht weg??" fiel ihm noch auf.

Es handelte sich um 3 kleinere Karperschiffe und 5 Frachtschiffe. Klar, die Piraten hatten ihre kleinen aber wendigen Schiffe bis zur Oberkante mit Waffen bestückt. Die Frachter der Händler hatten zusammen nicht so viele Waffen wie 1 der Piratenschiffe. Aber die waren jeweils nur in der Lage, 1 Frachter auf einmal zu überfallen.

"Es ist deine Aufgabe, mir das zu sagen, Kadett!" herrschte der Kapitän ihn an.

Währenddessen saß Kuhn mit zusammengebissenen Zähnen am Steuer. Es ging unaufhaltsam und mit rasantem Tempo auf die grausamen Piraten zu. Noch kam kein Schuss oder Ähnliches. Die Reichweite war zu gering.

"Ich meine, 2 Frachter hätten doch fliehen können?" verstand Derek nicht.

Allerdings musste er noch ein paar andere Dinge checken und melden, sodass er dem Gedanken nicht weiter folgen konnte:

"Geschätzte Reichweite der 3 Piratenschiffe 5000 Meter Bordgeschütz, 250 Meter Enterhaken. Eigene Reichweite Hauptkanone 12500 Meter. Entfernung zum äußersten Piratenschiff noch 23100 Meter. Bei aktueller Geschwindigkeit ist die Hauptkanone... jetzt in Reichweite!"

"Bremsen auf Gefechtsgeschwindigkeit, Lonn! Wir sind noch viel zu schnell für eine gewöhnliche Intervention! Das Geschwader muss unbedingt bremsen, sonst gibt es gleich eine Karambolage!" befahl Kommandant Hergat, der bisher recht ruhig gewesen war.

"Ok Kommandant... Kadett am Steuer, du hast ihn gehört. Geschwindigkeit halbieren." gab Lonn den Befehl weiter.

Derek wunderte sich indes noch immer, weshalb die Piraten keine Regung zeigten und die Handelsschiffe sich nicht rührten. Es war eigentlich unmöglich, dass man sie noch nicht bemerkt hatte.

Noch etwas war seltsam. So grausam 1 der Schiffe zugerichtet worden war, so unversehrt war jedoch der Rest. Derek hätte wie er schon gesagt hatte vermutet, dass 2 der 5 Handelsschiffe fliehen würden und die 3 Karperschiffe je 1 der Handelsschiffe auseinandernehmen würden. Nach diesem Szenario wären sie zu spät und es hätte nichts mehr zu retten gegeben. Doch das war nicht eingetreten.

"Feuer!" befahl Kapitän Lonn plötzlich.

"Seid ihr verrückt, den Piraten auch noch derart direkt zu offenbaren, dass wir nur bluffen???" sank Kommandant Hergat in seinem Stuhl ein.

Derek sank das Herz in die Hose. Bis eben hatte er noch an Lonns Plan geglaubt, nach dem die kleinen Karperschiffe sich schon längst aus dem Staub hätten machen müssen.

Kuhn setzte indes den Befehl um, deutlich langsamer zu werden. So konnten die Kadetten an den Geschützen besser zielen, jedoch wurden sie auch selbst bessere Ziele.

Mit einem Ruck lösten sich die ersten Torpedos von ihrem Schiff.

Nicht ein Schuss traf ein Piratenschiff.

Ein weiterer Torpedo löste sich erst jetzt, flog aber ebenfalls um Längen vorbei. Wenigstens hatten sie auch kein Handelsschiff getroffen.

"Kapitän, es gibt keine Treffer, 11 Torpedos gezündet! Abstand zum Feind kritisch, Kollision in 5, 4, ..." brüllte Derek, die Augen weit aufgerissen.

Nun lag es an Kuhn, den Vogel zu retten. Mit zerknirschten Zähnen, als müsste er die Sea of Infinity an einer Zügel mit Muskelkraft herumreißen, zerrte Kuhn am Steuer.

Im engsten möglichen Radius kurvte die Sea of Infinity am Punkt des Piratenüberfalls vorbei. Hätte Kuhn eine Sekunde später reagiert, wäre allenfalls noch Müsli von ihnen übrig geblieben.

Viel knapper hätte es kaum sein können.

"Kapitän, warum habt ihr keinen Befehl zum Abdrehen gegeben?" wollte Kuhn wissen.

Der Pilot war merklich außer Atem, die Stirn voller Schweißperlen.

"Muss man euch Kadetten wirklich jeden kleinen Scheiß vorsagen?" pampte Lonn zurück.

"Trefft lieber und sorgt dafür, dass wir nichts kassieren!!!" setzte er noch nach.

Derek musste sich bei all diesem Stress sehr anstengen, auf seine Monitore konzentriert zu bleiben. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. Viel schneller als ihm lieb war bekam er die Erklärung für seine Fragen von Vorhin.

Eine Rotte von Schiffen, in Anzahl und Größe ihrem Geschwader deutlich überlegen, näherte sich aus dem Winkel eines der Monitore. Sie mussten im berüchtigten Sensorschatten gewartet haben.

"Kapitän, mindestens 50 schwere Kampfschiffe aus 2 Uhr!" meldete Derek reflexartig.

Anders gesagt: doppelt so viele doppelt so große Schiffe.

"Wieso hast du die vorher nicht gesehen?" war Kapitän Lonn außer sich.

"Sie haben sich ideal im Sensorschatten platziert, wahrscheinlich indem sie sich hinter einem Himmelskörper in Deckung gehalten und die Lücke in der effektiven Sensor-Reichweite ausgenutzt haben!" erklärte Derek sofort.

Die Sensor-Technologie hatte ihre Tücken, welche die Piraten offenbar bestens verstanden, um Hinterhalte zu planen. Diese Piraten gaben sich nicht mit ein paar Handelsschiffen zufrieden und sie flohen auch nicht im Angesicht von 25 Militärschiffen. Stattdessen war dies hier nur ein Köder gewesen, um größere Fische ins Netz zu holen. Die Handelsschiffe mussten die 50 Piraten-Kampfschiffe von ihrer Position aus direkt gesehen haben und waren wohl deshalb nicht geflohen.

Während Derek sich überlegte, was sie tun sollten und Kuhn sich konzentrierte, im Ernstfall Geschossen ausweichen zu können, feuerte die Sea of Infinity ihre Hauptkanone ab.

Eines der kleinen Karperschiffe der Piraten wurde erwischt. Es gab eine Erschütterung und einen Knall. Danach sah man nur noch eine Wolke von Trümmern.

"Wieso sind denn echte Waffen an Bord???" wunderten sich Lonn und Hergat fast gleichzeitig.

Es kam ihnen allerdings gerade durchaus gelegen, darum war die Antwort erst einmal weniger wichtig.

"Jaaaa, genau so! Nun schießt mir noch die anderen 2 Kleinen Piratenschiffe aus der Bildfläche!" lief Kapitän Lonn heiß.

"Die Händler können fliehen, wenn wir die kleinen Fische eliminieren. Die Kampfschiffe sind jetzt auf uns aus." zeigte Kommandant Hergat einen Geistesblitz.

"Zeit bis zum Eintreffen der Kampfschiffe noch 10 Sekunden! Die Karperschiffe müssen jetzt zerstört werden, damit die Händler noch fliehen können!" analysierte Derek.

Die Hauptkanone hatte inzwischen das 2. kleine Karperschiff anvisiert. So viel zu Lonns Ansprache, dass ihre Aufgabe eigentlich nicht hauptsächlich aus der Zerstörung von Piratenschiffen bestand. Aber Ausnahmen für außergewöhnliche Situationen braucht es eben doch immer wieder.

"Eintreffen in 3, 2..." zählte Derek herunter.

Derweil explodierte das nächste kleine Karperschiff. Das 3. wollte noch abdrehen, doch ein Torpedo von einem anderen Schiff ihres Geschwaders kam dem zuvor.

"Die Kampfschiffe sind eingetroffen!!" brüllte Derek.

Im Eifer des Gefechts und durch die Verwirrung der Explosionen hatten die Händler ihre freie Bahn genutzt. Die Rettung war geglückt! Aber wer rettete jetzt die Kadetten und ihre Ausbilder?

Kuhn hörte erste Warnsignale, die das Schiff ihm gab und riss das Steuer herum. Die Piraten verschwendeten keine Zeit oder Worte, sondern feuerten sofort aus allen Rohren.

"Festhalten!" ließ Kuhn die Crew noch wissen.

Gleich darauf machte die Sea of Infinity eine Rolle um ihre Längsachse. Ein gegnerisches Geschoss explodierte in der Nähe, die Schockwelle erschütterte das Schiff. Aber die Rolle hatte einen direkten Treffer vermieden. Das Schiff aus ihrem Geschwader direkt neben ihnen hatte weniger Glück. Ein glatter Durchschuss nahe der Mitte.

"Nein!!!" entfuhr es Hergat.

"Wir müssen hier raus!" war seine Folgerung.

"Wenn wir ihnen den Rücken zudrehen und davonfliegen wollen, treffen sie uns noch viel besser!" hielt Lonn dagegen.

"Wir sind 2:1 unterlegen! Wir sind so oder so verloren, Lonn! Unsere Mission ist beendet, Schluss jetzt mit dem Schwachsinn!" wurde der Kommandant ungewohnt laut.

Während es keine klaren Kommandos gab, war Chaos ausgebrochen. Das Geschwader hatte seine Formation längst aufgegeben, in Ausweichmanövern verloren.